Europa 51

„Man kann sich fragen, warum er Regisseur geworden ist, wie er zum Film kam; er ist durch Zufall dahin gekommen oder eigentlich durch Liebe. Er war in ein junges Mädchen verliebt, das Produzenten aufgefallen war […] Aus reiner Eifersucht begleitete Roberto sie ins Studio, und da es keine reiche Produktion war und man ihn unbeschäftigt herumstehen sah” … usw. So also kam Roberto Rossellini zum Film.
Nachdem wir Il Miracolo und Stromboli gesehen haben, erinnern wir uns dieser Anekdote, die Truffaut übermittelte.
Il Miracolo, eine Episode aus L’Amore (1947/48), war ganz offensichtlich „der schauspielerischen Kunst Anna Magnanis gewidmet”, in deren Dienst sich die Kamera und der Regisseur gestellt hatten. In Stromboli (1949), einen Film, der (so sagt Rudolf Thome) „das Portrait einer Frau” entwirft, hatte die Kamera die ehrfurchtsvolle Distanz aufgegeben und war zu einem eifersüchtigen Überwachungsinstrument geworden, das Rossellinis neue Liebe leidenschaftlich auf Schritt und Tritt verfolgte. So gesehen war für Europa 51 das Schlimmste zu befürchten, und mit gleicher Blindheit geschlagen hätte man in diesem Film ebenfalls leicht den bloßen Vorwand erblicken können, dessen Rossellini sich bediente, um seine Liebe in Szene zu setzen. Wir sind ja gern bereit dazu, überall Liebesgeschichten zu vermuten. So äußert sich der Wunsch, daran Teil zu haben, und wir reagieren – je nach Befindlichkeit – höhnisch, lästernd, spöttisch, auf jeden Fall enttäuscht, wenn wir uns nicht angesprochen fühlen.
Europa 51 wirkt befremdend auf uns. Nicht, weil es mittlerweile aus der Mode gekommen ist, Werktätige in Betrieben zum Feierabend zu zeigen, oder weil eine anständige Frau ihren sogenannten gesellschaftlichen Pflichten ausnahmsweise für einen Tag am Fließband nachkommt, um gleich das Unwahrscheinlichste zu zitieren von allem, was der Film an Unwahrscheinlichkeiten für uns bereithält. Nein, Europa 51 befremdet uns deshalb, weil der Film trotz allem – und dieses „trotz allem“ gilt es zu unterstreichen – glaubhaft ist.
Dies zu gestehen fällt uns schwer. Wir waren ja längst bereit, unser Lästermaul zu öffnen. Aber nicht einmal „die schönsten Tränen, die je über eine Leinwand fielen“ (Rohmer), konnten uns dazu bringen – und sie waren weiß Gott schwer zu ertragen, wo wir doch sonst eher Fotos von düster dreinblickenden Zeitgenossen auf irgendwelchen Independent-Plattencovern gewohnt sind. Kurzum: bezüglich Europa 51 versagt unsere übliche Herange­hensweise, Gegebenes abzutun, völlig.
Das haben wir bald einsehen müssen und kamen daher über ein unbestimmtes Murren nicht hinaus. Vor Begeisterung konnten wir uns ja auch nicht gerade überschlagen.
„Rossellini war nie jemand, der unterhalten kann. Den Leuten Spaß berei­ten, das will er ganz und gar nicht. Er will sie belehren.“
Ingrid Bergman sagte dies in einem Gespräch mit Robin Wood (Film Comment 7/8 1974) und gab uns freundlicherweise auch gleich den Hinweis darauf, worüber uns Europa 51 belehren sollte: er sollte die Leute darüber belehren, sagt Bergman, „was passiert, wenn man seine Reichtümer wegwirft. Ich meine, in gewisser Weise wollte er einen Prä-Hippie zeigen.“ Wir möchten lachen, aber ganz so falsch, wie sich das anhört, ist es nicht.
Mir fällt dabei übrigens gleich ein Geistesverwandter Rossellinis ein, Hans Erich Nossack, der die Grundidee der Hippies, „sich von dem Konsumzwang frei zu machen“, „ganz großartig“ fand. Er sah darin sogar für heute (na ja, 1976) „die Form der Revolution“. Bevor wir wieder anfangen wollen zu lachen, zitiere ich lieber noch einmal Nossack, denn das bringt uns wieder zu Rossellini:
„Was ist das eigentlich, das Revolutionäre? Doch nicht die Sucht nach Umsturz und Barrikaden. Nicht ein vager Freiheitsdrang junger Menschen. Davor muß im Gegenteil gewarnt werden, da die Erfahrung lehrt, daß unbefriedigte Abenteuerlust von jeher von Diktaturen aller Schattierungen für ihre Zwecke ausgenutzt wurde. Das eigentlich Revolutionäre besteht doch wohl für alle Zeiten darin, daß der einzelne sich genau der Grenze bewußt ist, wo das Unrecht beginnt, und an dieser Grenze haltmacht und nein sagt.“
Und das drückt Rossellini in Europa 51 aus?

Rossellini:

Wissen Sie, wie mir die Idee dazu gekommen ist? Ich drehte den Franceso und erzählte die ‘Fioretti’ Fabrizi. Nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, wandte er sich an seinen Sekretär und sagte: „Das war ein Verrückter.” Und der andere: „Ein völlig Verrückter.“ Von daher ist mir die Idee gekommen. Außerdem habe ich mich noch von einer Geschichte inspirieren lassen, die sich während des Krieges in Rom zugetragen hat. Ein Ladeninhaber von der Piazza Venezia verkaufte seine Stoffe zu Schwarzmarktpreisen. Als eines Tages seine Frau eine Kundin bedient, kommt er hinzu und sagt dieser: „Signorina, nehmen Sie diesen Stoff, ich schenke ihn Ihnen, weil ich an diesen Verbrechen nicht teilhaben will; ich finde, der Krieg ist etwas Schreckliches.“ Natürlich ist die Frau, nachdem die Kundin das Geschäft verlassen hatte, über ihren Mann hergefallen und hat ihn das Leben zu Haus unmöglich gemacht; aber das moralische Problem blieb für ihn bestehen. Weil er sich mit seiner Frau nicht einigen konnte und diese fortfuhr, Verbrechen gegen das moralische Gesetz in ihm zu begehen, tat er was? Er hat sich der Polizei gestellt:
„Ich habe das und das und das gemacht, und muß mich all dieser Dinge entledigen.“ Die Polizei hat ihn in eine Nervenklinik geschickt. Und was der Psychiater mir über diesen Fall gesagt hat, hat mich beunruhigt: „Ich habe ihn untersucht und festgestellt, daß dieser Mann nichts weiter als ein moralisches Problem hatte. Ich war so erschüttert, daß ich nachts nicht schlafen konnte und mir sagte: ,Ich muß ihn als Wissenschaftler behandeln und nicht als Mensch. Als Wissenschaftler habe ich zu untersuchen, ob dieser Mann sich wie ein Durchschnittsmensch verhält. Er beträgt sich nicht wie ein Durchschnittsmensch.’ Ich habe ihn also in eine Irrenanstalt geschickt.“

Rossellini teilt uns leider nicht mit, ob der Wissenschaftler danach gut schlafen konnte. Ihm jedenfalls scheint es keine Ruhe gelassen zu haben, sonst hätte uns Rossellini wohl nicht mit Europa 51 konfrontiert. Ein unbequemer Film, da hat Ingrid Bergman ganz Recht.
Aber, warum heißt der Film Europa 51 und nicht, na ja, sagen wir Die Tragödie einer Frau oder so? Schließlich ist es ja eine Frau, die im Film im Irrenhaus endet.
Und schon sind wir wieder beim Murren angelangt. Wir kamen ja über dieses nicht hinaus, weil wir bemerken mußten, daß es in Europa 51 gar nicht um Die Bergman geht, die in Stromboli als Anti-Star immer noch Star blieb – sensationell genug. Europa 51, „schon der Titel hat Anstoß erregt.“ Sagt Rossellini. „Dabei war ich sehr demütig; ich wollte in aller Beschei­denheit sagen, wie ich unser heutiges Leben empfinde.“
Mit anderen Worten: Für Roberto Rossellini war die Geschichte des Nichtgenormten, der als Verrückter genormt wurde, ganz gleich ob ♀ oder ♂, beispielhaft für, nun, für das Europa 1951.
Wagen wir doch bloß einen kurzen Blick in das geographische Zentrum Eu­ropas, wo es nach alter Väter Sitte alles besonders extrem abgeht: „Wir hatten in Deutschland nie eine solche politische Situation, rein nationali­stisch und unfrei, reaktionär, wie jetzt“, schreibt Alfred Döblin am 16. August 1951 enttäuscht; „die Literaten sind Opportunisten, geistig sehr belanglos” usw. Vielen Dank, das genügt uns. Uns wundert es auch kaum noch, daß einer der Gäste der Gerards Irenes Cousin Andrea voller Erstaunen von oben nach unten abmißt: „Oh! A socialist!“ Gegen eine solche Definition zeigt er sich natürlich machtlos.
Irene, deren Verhalten sich nach dem Selbstmord ihres Sohnes allen Defi­nitionen entzieht, läßt sich später den Titel „verrückt“ überstülpen, den die Gesellschaft ihr zuerkennt. Andere glauben wiederum in der „Verrückten“ eine „Heilige“ zu erkennen. Dabei ist sie ganz einfach sie selbst.
Daß Rossellinis Drehbuch „nicht der Naivitäten bzw. Unstimmigkeiten“ entbehrt, darüber murrte vor uns längst André Bazin, und wir wollen es ihm gerne glauben. „Aber diese Vorbehalte bestehen nicht vor der Gesamtheit eines Filmes, den man von seiner Inszenierung her verstehen und beurteilen muß.“
Ingrid Bergman kommt dabei natürlich etwas zu kurz. Wie alle anderen, so muß auch sie sich diesmal der Idee beugen, statt, wie in Stromboli, die Idee zu sein.
Wir haben von ihr bereits erfahren, daß Rossellini den Leuten ganz und gar keinen Spaß bereiten will. Wir erinnern uns zwar gewisser Szenen aus Roma, città aperta und Viaggio in Italia spontan, für Europa 51 aber mag das zutreffen. Vermutlich hatte Ingrid Bergman auch diesen Film im Kopf, der für sie, die damals auch noch mit ihren Zwillingen schwanger ging, eine besondere Strapaze bedeutet haben mußte.
„Ich habe Europa 51 in sechsundvierzig Tagen gedreht und nicht mehr als 16.000 Meter Negativ verbraucht“, verkündete Rossellini 1954 und wir ahnen bereits eine unbarmherzige Strenge, die sich natürlich auch im Film niederschlagen mußte. „Rossellini ist mehr ein Kommandeur“, meinte Bergman im Interview mit Robin Wood. „Er würde sagen: .Ich will, daß Du das machst und das und auf diese Art soll es sein und ich will keinerlei Unfug.’“ „Das überrascht mich“, entgegnet Wood, „denn ich dachte immer, daß Sie in Rossellinis Filmen große Freiheit hatten. Es sieht so aus. Die Darstellung ist so spontan.“ Gewiß, gewiß, aber deshalb sollten wir uns doch nicht täuschen lassen. Wenn man nämlich genau hinsieht, was wir seltsamerweise ungern tun, obschon es genau darauf bei der Fotographie, beim Film, ja im Leben hätte ich beinahe gesagt, ankommt, wird man sich vielleicht erstaunt zeigen, weniger aber überrascht.
In Europa 51 zum Beispiel kann uns doch nicht verborgen bleiben, wie der arme Michel, in der Szene, wo seine Mutter sich so heftig frisiert um die Diagonale zu betonen, versehentlich seinen rechten Arm bemüht, um die Waagerechte zu markieren. Zum Glück fällt ihm noch rechtzeitig ein, daß der Regisseur ihm eingebleut hatte, die Linke zu nehmen, und so braucht die Szene nicht unbedingt wiederholt zu werden. Es fällt ja kaum auf. (Abb.1)

ABB. 01

Der linke Arm aber ist wichtig, er weist nicht nur viel nachdrücklicher auf die gegenüberliegende Bildseite, wo sich das Gesicht der Mutter im Spiegel wiederfindet, er wird uns auch wieder gegenwärtig, wenn die Krankenschwester später dem Vater den Tod des armen Michel mitteilt. In der Abbildung 2 sehen wir, daß sich der Arm des Vaters auf der gleichen Linie befindet, wie vormals der des Sohnes. Eine Linie, die dermaßen offensichtlich ins Spiel gebracht wird, lohnt sich zu verfolgen.

ABB. 02

Neugierig machen müßte uns auch, warum sich der Vater so um die neue Lok bemüht, die doch sein Sohn geschenkt bekommen hat. Dieser aber steht wie eine Eins im Raum (Abb.3) und scheint mehr auf die Senkrechte Wert zu legen, während Mr. Gerard sich noch bei der Diagonalen aufhält.

ABB. 03

In Abbildung 4 allerdings hat der Vater dann ebenfalls an der Senkrechten Geschmack gefunden, ist jedoch bekümmert, weil er die Frage, die an ihn gestellt wird, verneinen muß. Beiläufig betont er dabei die Linksdiagonale, die in der Abbildung zuvor noch ausgerechnet jene Dame innehält, die den Cousin Irenes als Kommunisten denunzieren wollte. Usw. usw.

ABB. 04

Schnell wirkt der ganze Film komisch auf einen, wenn man sich darum bemüht, der Komposition auf die Spur zu kommen, der Rossellini sich bedient hat. Die Darsteller erscheinen da notgedrungen als Marionetten, die ihren je bestimmten Auftrag ausführen; für kurze Momente verharren sie, vielleicht selber leicht befremdet, in dem Konstrukt und überlassen dann erleichtert ihren Platz einem anderen. Sehen wir uns daraufhin doch nur einmal die Szene an, in der die Erwachsenen mit Michels Eisenbahn spielen. Oder zählen wir doch einmal die Sekunden ab, die der bekümmerte Vater sich krümmt; das Bild (Abb.4) allein entbehrt ja nicht einer gewissen Komik.
Die unfreiwillige Komik, die eine solche Betrachtungsweise zu Tage fördert, ist indes nur die Kehrseite der ungeheuren Unerbittlichkeit, mit der Rossellini in Europa 51 alles, fast alles, in das Schema zwingt. Ob wir nun in das Treppenhaus blicken (Abb.5), eine sehr kurze Einstellung im Film,

ABB. 05

oder uns in einer ersten Einstellung für einen Augenblick mit Irene konfrontiert sehen, über deren Schulter der Hund unheilvoll erscheint (Abb.6),

ABB. 06

alles unterliegt einer strengen Komposition, was wir uns im Fluß des Filmes gar nicht bewußt machen können. Die Abbildungen 7 und 8 sollen nun zeigen, wie die Figuren in Europa 51 um das Zentrum der jeweiligen Einstellung gruppiert sind, dem oft überhaupt nichts zu entnehmen ist.

ABB. 07
ABB. 08

Nicht immer ist dieses „Loch“ so deutlich akzentuiert wie in Abbildung 9.

ABB. 09

Es wäre interessant zu untersuchen, wann und von wem dieses „Loch“ überdeckt wird und ob das eine Bedeutung haben könnte. Wir müssen uns zunächst aber damit begnügen, festzustellen, daß die Aussparung im Zentrum der Einstellungen den Figuren den Raum nimmt, weshalb wir uns des Eindrucks kaum erwehren können, daß diese Figuren niemals zum Kern der Sache vordringen.

Siegfried Kracauer hat darauf hingewiesen, daß Rossellini den Zuschauer nicht nur dazu zwinge, sadistische Untaten, die er in allen Einzelheiten schildere, voll in sich aufzunehmen (die Rede war an der Stelle von der Folterszene in Roma, città aperta), sondern er lasse sie gleichzeitig „als reale, von der unerschütterlichen Kamera registrierte Vorgänge erschei­nen“. Ähnliches geschieht in Europa 51. So befremdlich und unglaubhaft die Stationen, die Irene abklappert, uns auch erscheinen mögen, sie machen doch alle sichtbar, daß hier ein Mensch ist, der sich im Dickicht abstrakter Wahrheiten verloren sieht. Oder anders gesagt: „Dieser Film hat also die Einsamkeit der Seele zum Gegenstand, die sich auf der einen Seite der bornierten Verständnislosigkeit gegenübersieht, auf der anderen herablassender Besorgtheit.“ Daß aus diesem Druck heraus, für den der Regisseur verantwortlich ist, Tränen kullern, die „zu glänzen scheinen, wie das Versprechen einer Erlösung“, beruhigt uns ungemein.

Bernward Reul, 24. September 1990

aus: Rolf Schüler (Hrg.): Roberto Rossellini. Eine Sammlung von Beiträgen aus einem Seminar am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Berlin, 1990