Die Rede von Landowsky

„Um einen Feind zu bekämpfen, muß man ihn kennen. Dies ist eines der ersten Prinzipien einer gesunden Strategie. Ihn zu kennen bedeutet nicht nur, seine Fehler und Schwächen zu kennen; es bedeutet, seine Stärke zu kennen. […] Als wir zuerst die politischen Mythen hörten, fanden wir sie so absurd und unangemessen, so phantastisch und lächerlich, daß wir kaum dazu vermocht werden konnten, sie ernst zu nehmen. Jetzt ist uns allen klar geworden, daß dies ein großer Fehler war.“

Ernst Cassirer schrieb dies gegen Ende seines Buches „Der Mythus des Staates“. Den Feind 52 Jahre danach ausgerechnet mit Herrn Landowsky zu identifizieren, wäre mehr als lächerlich. Denn erstens sprach Herr Landowsky nicht im eigenen Namen sondern als Vorsitzender einer Regierungspartei, und zweitens durfte sich der Redner neben aufgeregter Kritik auch großer Zustimmung nicht nur seitens seiner Genossen, sondern auch der ortsansässigen Bevölkerung erfreuen. Zwar gab man parteiintern zu bedenken, daß der Fraktionschef mit seiner aufsehenerregenden Haushaltsrede bis „an die Grenze der parlamentarischen Schärfe (Hassemer)“ gegangen sei, aber überschritten hat er diese offenbar nicht. Gleich zwei Parlamentsanträge, eingebracht in der Absicht, die sogenannte „Ratten-Rede“ zu rügen, fanden im Parlament keine Mehrheit. Den feinsinnigen SPD-Antrag gegen alle, „die in Sprache und Handeln soziale Konflikte verschärfen, Gewaltbereitschaft fördern, die Spaltung der Menschen betreiben und so den Bestand der Demokratie und einer humanen Gesellschaft gefährden“, vermochte – hört hört! – lediglich ein Teil der SPD-Fraktion zu unterstützen, während sich die übrigen Fraktionsmitglieder dem auch von der PDS unterstützten Entwurf der Grünen zuschlugen und sich so als Angehörige der „RAF“ outeten, als Angehörige der „rot-alternativen Front“. Die Union stimmte geschlossen gegen beide Anträge.

„Heute ist ein Tag der Politik, der gründlichen Auseinandersetzung unterschiedlicher Politikentwürfe“, hatte der CDU-Fraktionsvorsitzende angekündigt und bei der Gelegenheit die Spruchweisheit von Goethe bemüht: „Sag mir, mit wem du gehst, und dann sage ich dir, wer du bist!“.
Und weiter: „Ich sage vor diesem Abgeordnetenhaus von Berlin: Wir, die Union, waren stets diejenigen, die kompromißlos gegen SED und PDS gestanden haben, und wir stehen auch weiterhin dagegen.“

Die Union steht noch gegen diverse andere Ärgernisse. Z.B. gegen Walter Jens, dem jetzigen Ehrenpräsidenten der Akademie der Künste zu Berlin, dem der Parteivorsitzende Unfähigkeit vorwirft. Sie steht gegen „Ausländer, die schwere Straftaten in Berlin begehen“. (In einem Interview mit der Morgenpost variiert Herr Landowsky laut Berliner Kurier vom 17.03.1997: „Jeder Ausländer ist in Berlin herzlich willkommen. – Aber ich erwarte, daß er sich strikt an die Gesetze hält, keine Straftaten begeht, sonst hat er sein Gastrecht verwirkt und muß die Stadt verlassen.“) Die Union scheut sich nicht, den legendären „Schulterschluß“ mit Teilen der Sozialdemokratie zu üben – vielmehr umgekehrt –, wenn es darum geht, „intensiv gegen die Verslummung Berlins“ vorzugehen, „gegen Sprayer, gegen Müll und Verwahrlosung auch der städtischen Brunnen.“ Denn: „Es ist nun einmal so, daß dort, wo Müll ist, Ratten sind. Und daß dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. – Das muß in der Stadt beseitigt werden!“

Man kann diese schönen Sätze nicht oft genug zitieren. Sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Aber Herr Landowsky fühlt sich mißverstanden. Zu Recht, möchte ich meinen, denn es ist nicht damit getan, Sätze aus dem Zusammenhang zu reißen, in den sie sorgsam eingebettet wurden. Man darf doch wohl noch von Ratten und Gesindel reden, ohne zugleich damit die Ausländer zu meinen, die bekanntlich ihre Mühe damit haben, ihre kriminelle Energie zu zügeln. Man kann PDS und Grünen in einem Atemzug nennen und zugleich die Teile der SPD ganz außer acht lassen, die ja erst im nächsten Satz oder erst im nächsten Absatz ihre systematische Erwähnung finden. Für Reste von Kombinationsvermögen ist Herr Landowsky schließlich nicht verantwortlich.

Der Regierende Bürgermeister zeigt sich dennoch verärgert: „Ich würde bestimmte Formulierungen nicht gebrauchen“ und rät geschwind, man solle nachlesen, was Landowsky gesagt habe und dabei den Kontext beachten. Die CDU hält einen Serienbrief parat, der jedem echten Berliner zur Ehre gereicht; die Skandal-Rede wird frei Haus mitgeliefert – vielzitierte Stellen freundlicherweise bereits angestrichen. Und in den Medien bewertet Herr Landowsky die Proteste: „Wer sich meine Rede insgesamt durchliest, der kann mir nicht unterstellen, daß ich in irgendeiner Weise ausländerfeindlich argumentiert oder gar Menschen mit Ratten verglichen hätte. Diese Aufgeregtheit ist stark initiiert von den Grünen, der PDS und von Teilen der SPD. Es wird bewußt das verbogen, was ich tatsächlich gesagt habe.“ Sagt Herr Landowsky. Der mündige Bürger dankt für die periodische Wiederholung immergleicher Zeichenkonstellationen.

Klaus Rüdiger Landowsky hat in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsitzender der CDU „deutliche Zeichen“ gesetzt („Ganz einfach – sonst versteht es der Bürger auch nicht.“) Seine vielzitierten Formulierungen sind die seinen nicht, aber effektiv sind sie. „Gesindel, Abschaum, Ratten“ – das hört man immer wieder gerne aus dem Munde eines Demokraten. Darüber kann man sich empören ohne in Verdacht zu geraten, von gestern zu sein. Der Jargon ist verwerflich, darüber sind sich alle einig; manch einer freilich hätte das Gleiche lieber anders gesagt. Doch dem Prinzip der Signalökonomie folgend kommen „Ratten“, „Ausländer“, „Kapitalistenschweine“, „Rote Socken“, „Schmeiß­fliegen“ usw. stets zur rechten Zeit.

„Die Signalökonomie“, schreibt Harry Pross (Merkur Nr. 418, 1983), „setzt voll ein, wo dieselbe Mitteilung an mehrere verteilt werden soll. Wenn einer sich an mehrere wendet, versammelt er sie um sich. Das heißt, er veranlaßt andere Menschen, von ihrer kostbaren subjektiven Lebenszeit, die ja unwiderbringlich abläuft, so viel abzugeben, daß er nicht hinter jedem einzelnen herzulaufen braucht; dadurch daß die anderen kommen, ersparen sie dem Mitteilenden Aufwand für seine Botschaft. Diese Ersparnis tritt aber nur ein, solange die anderen kommen. Wer nicht mehr kommen lassen kann, hat keine Macht mehr, denn der Anfang aller Macht von Menschen über Menschen liegt in der Verfügung einzelner über die Lebenszeit anderer.“

Bernward Reul  [1. Juni 1997]