Edition Heft 35

REICHSTAG. Bildergeschichte.
13 Fotos von Bernward Reul
Nachwort von Dr. Andrea Schütte-Bubenik
Gestaltung und Satz: Andreas Koch (von hundert)
14 Seiten. Kartonumschlag
[16. Dezember 2018]

Nachwort:

Als am 6. Juli 1995 das Reichtagsgebäude endlich verhüllt ist, sind die gesellschaftspolitischen Erwartungen an dieses Projekt groß. Nach der wechselvollen Geschichte, die das Gebäude repräsentiert, steht es nun für einen demokratischen Neuanfang des geeinten Deutschlands. Es ist eine „Huldigung an die Demokratie“, triumphiert der CDU-Abgeordnete Landowsky, es ist ein Zeichen gegen „nationales und sonstiges deutsches Spießertum“, hält der parteilose Abgeordnete Ulrich Briefs dagegen.

Bernward Reuls Bildergeschichte zum Reichstag, in der vor allem das Volk im Fokus des Betrachters steht, scheint diese hohen Erwartungen nicht zu bestätigen. Wie ein Gebilde vom anderen Stern prunkt das riesenhafte Kunstwerk am Horizont und scheint das Volk eher abzustoßen als anzuziehen. Bald kehrt es dem Sinnbild der Demokratie den Rücken, irrt auf der vertrockneten Wiese umher, schaut in den Himmel oder posiert verloren auf dem Platz: Eine Frau im bunten Kittel schiebt sich gebückt ins Bild, eine andere bohrt mit dem Finger am Mund und Männer mit verrutschten Mützen und herabhängenden Mundwinkeln schauen ratlos in die Kamera. Das Kunstwerk, das in ihrem Rücken liegt, interessiert sie nicht. Vom progressiven Berliner, den Christo beschworen hatte, von euphorischer Aufbruchstimmung ist hier wenig zu spüren, stattdessen Entfremdung und Ratlosigkeit – eine Atmosphäre wie bei „Warten auf Godot“.

Dennoch bleibt der intensive künstlerische Eindruck, der vom verhüllten Reichstag ausgeht, auch in den Fotos Bernward Reuls bestehen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, liegt das Sinnbild der Demokratie wie eine gigantische silberne Krone auf den Köpfen der Menschen und lässt damit offen, was das Volk mit diesem Geschenk machen wird. Das Moment des demokratischen Aufbruchs ist auch hier eingefangen, nur steht der verhüllte Reichstag bereits unter dem Eindruck der Partizipation.

Erst im Dialog zwischen Kunst und Publikum entsteht das Spannungsfeld, das den „Wrapped Reichstag“ über den schönen Schein hinaushebt und ihm seine Bedeutung als Werk im öffentlichen Raum gibt. In diesem Sinne greifen die Fotos Bernward Reuls die „kreative Provokation“ von Christo und Jeanne-Claude in weit geglückterem Maße auf als jene unzähligen Abbildungen, die nur das Kunstwerk selbst im Auge haben. Emblematisch halten sie das Vakuum jener Jahre fest, skizzieren die gaffende Sprachlosigkeit, das ungläubige Staunen und erhalten dadurch ihren besonderen dokumentarischen und künstlerischen Wert.

Dr. Andrea Schütte-Bubenik

Weiteres
„Als Monument gedacht“ – Historiker Michael S. Cullen über das Reichstagsgebäude