Kapitel 2 aus: Guillaume Apollinaire – Der ermordete Dichter
Übersetzung und überarbeitete Anmerkungen von © Meinolf Reul, 1999
edition bernward reul, #30



Zeugung

Zwei Meilen vor Spa, auf der von krummen Bäumen und Sträuchern gesäumten Landstrasse, zündete Viersélin Tigoboth7, Wandermusikant, der zu Fuss von Lüttich kam, sein Feuerzeug an, um eine Pfeife zu rauchen. Eine Frauenstimme rief: He, Monsieur!

Er hob den Kopf, und ein irres Gelächter platzte los: Hahaha! Hohoho! Hihihi! Deine Augenlider haben die Farbe ägyptischer Linsen! Ich heisse Macarée.8 Ich will einen Kater!

Viersélin Tigoboth erblickte am Strassenrand eine junge, braune Frau mit hübschen Kugeln. Wie reizend sie war in ihrem kurzen Radlerrock! Und während sie mit einer Hand ihr Fahrrad hielt und mit der anderen die herben Schlehen pflückte, heftete sie glutvoll ihre grossen goldenen Augen auf den wallonischen Musiker.

Ihr seid ein schönes Mädchen9, sagte Viersélin Tigoboth und schnalzte mit der Zunge. Aber, bei Gott, wenn Ihr Schlehen esst, werdet Ihr eine Kolik kriegen, heut abend, bestimmt!

Ich will einen Kater, sagte Macarée wieder, und sie hakte ihr Hemd auf und zeigte Viersélin ihre Brüste, und sie waren wie himmlische Hinterbacken, und die Farbe der Warzenhöfe war zart wie das Rosa von Abendwolken.

Oh! Oh! sagte Viersélin Tigoboth, die sind schön wie die Perlen der Amblève10, schenkt sie mir! Ich werde Euch einen grossen Strauss Farnkraut und mondfarbene Schwertlilien pflücken.

Viersélin Tigoboth trat näher, um dies wunderbare Fleisch zu fassen, das man ihm umsonst darreichte, wie in der Messe das geweihte Brot; aber er hielt sich zurück.

Ihr seid eine schöne Braut, bei Gott, Ihr seid schön wie die Lütticher Kirmes. Ihr seid ein schöneres junges Mädchen als Donnaye, als Tatenne, als Victoire, deren Liebhaber ich war, und als die Mädchen vom Mont Rénier, die immer zum Verkauf stehen. Aber, wenn Ihr meine Geliebte sein wollt, bei Gott, werdet Ihr euch Filzläuse holen.11

MACARÉE

Mondfarben sind sie
Und rund wie das Rad der Fortuna.

VIERSÉLIN TIGOBOTH

Wenn Ihr nicht fürchtet, Läuse zu kriegen,
Möcht gern ich heute auf Euch liegen.

Und Viersélin Tigoboth trat näher, die Lippen voller Küsse:

Ich liebe Euch! Es ist so still! Oh Geliebte!12

Bald gab es nur noch Seufzer, Vogelgesang, und Hasen, rot und gehörnt wie Teufelchen, und wie in Siebenmeilenstiefeln, so schnell, liefen nahe an Viersélin Tigoboth und Macarée vorbei, die hinter den Schlehenbüschen die Macht der Liebe spürten.

Dann fuhr Macarée auf ihrem Stahlross davon.

Und todtraurig verfluchte Viersélin Tigoboth dies Werkzeug der Geschwindigkeit, das hinwegrollend im selben Moment hinter der wassererdigen Rundung verschwand, als der Musiker sich, ein Liedchen13 summend, zu pissen anschickte...

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7. Vierzélin ist im Lütticher Dialekt die Bezeichnung für »Hänfling« - ein Name für griesgrämige Personen. Tigoboth könnte, einem Hinweis Maurice Pirons zufolge, eine Reminiszenz an ein wallonisches Kinderlied sein: Ane, /Ti bot gote,/ Si m' bot gote (usw.) [Anne, /Deine Kiepe tropft,/Ja, meine Kiepe tropft (usw.)].

8. Zur Erklärung des Namens Macarée ist verschiedentlich angemerkt worden, dass dies der Name des Kentaurs in Maurice de Guérins (1810-1839) Prosagedicht Le centaure (wahrscheinlich 1835, Erstdruck 1840) ist. Der Kentaur Macarée erscheint aber auch in den Metamorphosen Ovids, die Apollinaire zweifellos kannte. Auf Sprachebene kann man Ma-car(r)ée [carré = Quadrat] kontrastiv zur Serie der <Rundheiten> sehen - Linsen, Kugeln, Schlehen, grosse Augen, Brüste, Warzenhöfe, Filzläuse, Mond, Rad der Fortuna und wassererdige Rundung, um bei diesem Kapitel zu bleiben, oder anagrammatische Reihen bilden wie: Macarée - Marée - (Mer - mère) - Mareye - Marie [Macarée - Ebbe und Flut - (Meer - Mutter) - Mareye (wallonische Aussprache von:) - Marie]. Schliesslich sei noch auf das spanische Verb «matar» [töten] hingewiesen, das sich aus dem lateinischen «mactare» [opfern, schlachten] entwickelt hat. Vgl. hierzu den Anfang des folgenden Kapitels.

9. «Vs'estez one belle bâcelle.» Viersélin Tigoboth spricht meist einen rauhen bäuerischen Dialekt, den man sich bildlich als unterbrochene Reihe schiefgelber Zähne vorstellen kann. Im Deutschen eine Entsprechung für die Sätze zu suchen, in die Tigoboth seine ungeschliffenen Galanterien fasst, ist problematisch. Ein Ausweichen ins Bayerische etwa, wie in der Übersetzung von Walter Widmer und Paul Noack (1967) unternommen, erscheint uns wenig sinnvoll, da Viersélin aus der Wallonie stammt. Wir haben uns deswegen für eine hochdeutsche Wiedergabe entschieden. Den Wortlaut des Originals stellen wir unübersetzt in den Anmerkungsteil, um so zumindest einen visuellen Eindruck von Viersélins Sprache zu geben.

10. Die Amblève, deutsch Amel, die durch Stavelot fliesst, dem Ort in der Nähe von Spa, wo Apollinaire zusammen mit seinem Bruder den Sommer des Jahres 1899 verbrachte. Damals konnte man dort noch Perlmuscheln finden. Vgl. in «LâHérésiarque et Cie.» [Erzketzer und Co.] die Erzählung Que vlo-ve? [wörtlich: Was wollt ihr?].

11. «V'estez one belle crapeaute di nom di Dio, vs'estez belle comme l'fôre à Lige. Vs'estez one plus belle jône feie qu'Donnaye, qu'Tatenne, qu'Victoere, dont j'ons été l'galant et que les mamzelles du mon Rénier qui sont todis à vinde. Mins, si vous voulez esse m'binaméïe, nom di Dio, v'arez les morpions.»

12.«J' v'ainme! I fait pahûle! Ô binaméïe!»

13. Im Original: «pasquéïe», eigentlich «pasquille». Der Erzähler greift <zum Abschied> den Dialekt Viersélin Tigoboths auf, der nach seinem <Auftritt> als Erzeuger aus der Erzählung verschwindet.