Familie. Ein Fragment.

Ehrlich gesagt, es langweilt mich, über die Familie zu sprechen. Aber dann rutscht es mir doch wieder heraus.
– Wir sind zwölf, sage ich bescheiden.
– Was? Wirklich? Ist ja Wahnsinn!
Ja, das haut rein, was?! Zwölf Kinder sind selten. In Deutschland. Jetzt aber kommt der Hammer:
– Elf Jungen. Ein Mädchen.
Das wirkt. Das hat immer gewirkt. 11:1. Damit hat sie nicht gerechnet. Damit rechnen die wenigsten.
– Das arme Mädchen.
Natürlich! Oft sagt man ja: Das ist ja eine ganze Fußballmannschaft! Mit Trainer! Oder: Da habt ihr dann bestimmt den ganzen Tag Volleyball gespielt. Sechs gegen sechs. Von den Vergleichen mit Maria und den Aposteln ganz zu schweigen.
Meine Gesprächspartnerin, vor der ich mich interessant zu machen wünsche, sagt natürlich: Das arme Mädchen. Das sagen alle. Mit dem Ausdruck von Bedauern und einer gewissen Bewunderung. So auch Bella:
– Das arme Mädchen.
Sie findet das nämlich vermutlich romantisch. Auch wenn sie sagt:
– Die hat’s bestimmt nicht leicht gehabt, zwischen all den Jungs.
Man merkt, daß ihr ein Bruder fehlt; sie versucht es sich vorzustellen, wie es ist, so als einziges Mädchen zwischen lauter Jungs.
Ich lasse ihr ein bißchen Zeit und überlege mein weiteres Vorgehen. Ob ich noch von meiner Schwester erzählen soll? Von der weiß ich allerdings ziemlich wenig. Alte Geschichten höchstens. All das verrückte Zeug, was sie angestellt hat, bloß deshalb, um so zu sein wie alle anderen! Stark war sie, das muß ich zugeben. Vielleicht ein bißchen kratzbürstig. Sie war eben ein Mädchen, aber wir waren die Brüder. Da war nichts dran zu ändern. Das war nun mal so. Was soll ich also sagen? Ich sage:
– Sie hat sich zu wehren gewußt.
Dann sage ich erst einmal nichts mehr. Mir geht eine Menge durch den Kopf. Ich würde gerne das Thema wechseln. Zu dumm, daß wir über die Familie reden, das ist doch schon alles so lange her.
– Ich möchte …
– Wie alt ist denn der Älteste?
– Also, äh, ich glaube so ungefähr 33 oder 35 – (geboren 1954, jetzt haben wir 1989) – äh, so 36.
– Und der Jüngste?
– Der Jüngste? Äh, der ist vor kurzem zwanzig geworden. Macht nächstes Jahr Abitur.
Bella rechnet. Ich weiß schon was ‘raus kommt. (Da haben sich deine Eltern aber tierisch angestrengt.)
– Da haben sich Deine Eltern aber ganz schön angestrengt.
– Das kann man wohl sagen. Fast jedes Jahr ein Kind.
– Um Gottes Willen, wie haben die denn das gemacht? Das kann ich mir gar nicht so richtig vorstellen.
– Das wissen die selber nicht mehr. Es ging irgendwie. Wir haben uns gegenseitig erzogen, meine Eltern haben nur korrigierend eingegriffen. Schlimm sind nur die ersten vier, danach läuft es wie von selbst, sage ich lässig.
– Und, der wievielte bist du?
– Nummer 6. Oberes Mittelfeld.
Bella lacht.
– Warum betonst du das so?
– Ach, ich weiß nicht.

[Erschienen unter dem Titel „Im Duzend billiger” in „Der Alltag. Die Sensation des Gewöhnlichen”, Thema: Familie, Nr. 2/1988, S. 108f.]